Kapitel 7 Andere Arbeitsmarktinterventionen

7.1 Informationsbroschüre über Chancen am Arbeitsmarkt

Altmann et al. (2018)40 führten ein randomisiertes Experiment durch im Rahmen dessen eine Informationsbroschüre, die über Strategien zur Jobsuche und die negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit aufklärt, an neu registrierte Arbeitssuchende verschickt wurde. Das Feldexperiment wurde in den Jahren 2010 und 2011 durchgeführt. In dieser Zeit erholte sich die deutsche Wirtschaft von der Finanzkrise. Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts war hoch (4,0% in 2010 3,3% in 2011) und es gab viele offene Stellen. Auch diese Information war Teil der Broschüre und sollte als Motivation für die Jobsuche dienen. Insgesamt wurde die Broschüre an 40.000 Arbeitssuchende verschickt. Die Kontrollgruppe besteht aus 120.000 Personen. Etwa zwei Drittel der Personen nahmen vor dem Erhalt der Broschüre wieder eine Beschäftigung auf. Für die verbleibende Behandlungsgruppe von 13,471 Personen geben Altmann et al. (2018) einen Effekt des Erhalts der Broschüre auf das kumulierte Einkommen im darauffolgenden Jahr von 146,94€ an. Um den Effekt auf das Nettoeinkommen und die Steuerzahlungen zu berechnen wird eine Steuersimulation verwendet, die das durchschnittliche Einkommen in der Kontrollgruppe für die Berechnung der relevanten Grenzsteuersätze zugrunde legt. Es ergibt sich ein Effekt auf das Nettoeinkommen von 99,75€. Dies entspricht zugleich dem Nutzen gemessen in Zahlungsbereitschaft für den Erhalt der Broschüre. 47,19€ entfallen auf den Staat in Form von höheren Steuerzahlungen. Beiträge zur Kranken- und zur Pflegeversicherung werden dabei als Steuer aufgefasst. Altmann et al. (2018) geben Kosten für den Versand der Broschüre von weniger als einem Euro an. Die Nettokosten des Versands der Broschüre sind also mit -47,19€ + 1€ = -46,19€ negativ. Der MVPF ist somit unendlich.

7.2 Informationsschreiben über zu erwartende Rentenansprüche

Seit dem Jahr 2005 verschickt die deutsche Rentenverwaltung Briefe, um über die zu erwartenden Rentenzahlungen zu informieren. In diesen Briefen wird der Zusammenhang zwischen der Höhe der Bruttoeinkommen, den Sozialversicherungsbeiträgen und den daraus resultierenden Rentenansprüchen deutlich. Um einen solchen Brief zu erhalten, musste der Empfänger mindestens 27 Jahre alt sein. Diese Altersgrenze führte zu einer quasi-zufälligen Variation, die es ermöglicht den Effekt des Erhalts des Briefes und der darin enthaltenen Informationen zu ermitteln. Dolls et al. (2019)41 zeigen anhand von administrativen Daten, dass der Erhalt des Informationsschreibens zu einer Zunahme der jährlichen Bruttoeinkommen in den darauffolgenden Jahren führt. Die Effektstärken beläuft sich auf 656,08€ im ersten, 844,57€ im zweiten, 1033,54€ im dritten und 1057,34€ im vierten Jahr nach Erhalt des Briefs. Die Kosten für das Informationsschreiben belaufen sich auf den Versand des Briefes. Dolls et al. (2019) argumentieren, dass Informationen, die für die Erstellung der individuellen Rentenprognose notwendig sind, unabhängig von dem Informationsschreiben erhoben werden. Es werden Kosten in Höhe von einem Euro für den Brief angenommen. An diese Stelle ist bereits klar, dass der MVPF des Renteninformationsschreibens unendlich ist. Die in Folge der Renteninformationsschreiben gesteigerten Einkommen führen zu gesteigerten Steuereinnahmen zu quasi null Kosten. Nach Berechnung der auf die Einkommenszuwächse anfallenden Steuerzahlungen ergibt sich ein über 4 Jahre aufsummierter Effekt von 1.199,49€ auf das Steueraufkommen. Die Nettoeinkommen nehmen im Durchschnitt um 2.218,38€ zu.

7.3 Umzugskostenübernahme

Arbeitssuchende können eine finanzielle Förderung von der Arbeitsagentur erhalten, wenn ein Umzug für die Aufnahme eines neuen Jobs notwendig. Dabei gibt es zwei Fördermodelle. Zum einen können Umzugskosten in Höhe von bis zu 4.500€ übernommen werden. Alternativ kann eine Wohnung am neuen Arbeitsplatz mit 260€ über 6 Monate gefördert werden. Die einzige Bedingung ist, dass der neue Arbeitsplatz nicht innerhalb von zweieinhalb Stunden vom bisherigen Wohnort aus erreichbar ist. Caliendo et al. (2017)42 evaluieren die Effektivität der Umzugskostenübernahme anhand einer Instrumentalvariablenschätzung. Die Schätzergebnisse der Autoren suggerieren, dass der Erhalt einer Umzugskostenübernahme mit einem um 16,3 Prozent gesteigerten Einkommen zwei Jahre nach Erhalt der Förderung einhergeht. Zur Berechnung des MVPFs wird angenommen, dass dieser Effekt über zwei Jahre besteht. Um den relativen Effekt in eine absolute Größe zu übersetzen wird das von Caliendo et al. (2017) angegeben Durchschnittseinkommen verwendet. Zur Berechnung der Auswirkung des gesteigerten Einkommens auf das öffentliche Budget wird eine Simulation des deutschen Steuer- und Transfersystems verwendet. Neben der Einkommenssteuer werden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung als Steuer interpretiert. Unter diesen Annahmen betragen die mit einer Diskontrate von 3% diskontierten Barwerte der Nettoeinkommensänderung und der Zunahme des Steueraufkommens 5.490,54€ und 3.210,48€. Caliendo et al. (2017) geben eine durchschnittliche Umzugskostenübernahme von 1.177€ an. Die Nettokosten, unter Berücksichtigung der positiven fiskalischen Externalität, sind somit gegeben durch 1.177€ - 3.210,48€ = -2.033,48€.

Kostenkomposition Umzugskostenübernahme

Das gestiegene Steueraufkommen kann die Ausgaben für die Förderung des Umzugs mehr als ausgleichen. Es entstehen dem Staat netto keine Kosten durch die Umzugskostenübernahme. Der Nutzen der Umzugskostenübernahme für die geförderten Personen ist positiv und gleich dem gesteigerten Nettoeinkommen 5.490,54€. Die erstatteten Umzugskosten sind nicht Teil der Zahlungsbereitschaft, da nicht klar ist, welcher Anteil der geförderten Umzüge auch ohne die Subvention stattgefunden hätte. Nur Personen, die unabhängig von der Subvention umziehen, haben eine Wertschätzung in Höhe der gezahlten Förderung. Für Personen, die wegen der Subvention umziehen, ist die Wertschätzung kleiner. Die genaue Höhe der Zahlungsbereitschaft ist für den MVPF nicht relevant. Solange die Zahlungsbereitschaft positiv ist, ist der MVPF unendlich.

7.4 Dezentralisierung von Jobcenter

Im Jahr 2012 wurden lokale Jobcenter, die bisher im Zuständigkeitsbereich der Bundesagentur für Arbeit waren, dezentralisiert. Konkret heißt das, dass insgesamt 41 der 407 Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland die alleinige Zuständigkeit für ihre lokalen Jobcenter erhielten. Jobcenter, die unter der Leitung der Bundesagentur für Arbeit stehen sind an überregionale Vorgaben bei der Stellenvermittlung, der Bewilligung von Förderungsleistungen und der Verhängung von Sanktion gebunden. Dezentralisierte Jobcenter sind an die gleichen gesetzlichen Vorgaben gebunden, haben aber einen größeren Spielraum bei der Erfüllung ihrer Leistungen. Die Finanzierung der von den Jobcentern vermittelten Leistungen bleibt durch die Dezentralisierung unverändert. Generell werden alle Leistungen aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit finanziert. Lediglich Kosten für Unterbringung werden durch den Haushalt des örtlichen Landkreises finanziert. A priori ist unklar, welche Organisationsform vorzuziehen ist. Dezentrale Jobcenter können ihre Leistungen besser an lokale Gegebenheiten anpassen. Die Dezentralisierung birgt jedoch die Gefahr von Fehlanreizen, da die dezentralisierten Jobcenter Leistungen erteilen können, deren Finanzierung nicht auf Ebene des Landkreises erfolgt.

Mergele & Weber (2020)43 zeigen mittels eines Difference-in-Difference Ansatzes, dass die Dezentralisierung gemischte Effekte hatte. Einerseits ist durch die Dezentralisierung die durchschnittliche Dauer von Phasen der Arbeitslosigkeit um 8,7 Prozent gestiegen. Auf der anderen Seite erzielen Personen, die wieder eine Erwerbsbeschäftigung aufnehmen im Durchschnitt 2,9 Prozent höhere Löhne. Um die beiden Effekte ins Verhältnis setzen zu können, müssen die Perioden der Arbeitslosigkeit modelliert werden. Es wird vereinfachend angenommen, dass neue Beschäftigungsverhältnisse mit konstanter Rate aufgenommen werden. Der Anteil der Arbeitssuchenden im Zeitverlauf folgt dann einer Exponentialverteilung. Die Exponentialverteilung ist so parametrisiert, dass die erwartete Dauer der Arbeitslosigkeit dem von Mergele & Weber (2020) angegeben Durchschnittswert von 425 Tagen entspricht. Dadurch lässt sich zu jedem Zeitpunkt der Anteil derer ermitteln die wieder eine Beschäftigung aufgenommen haben und somit von dem im Durchschnitt um 2,9% erhöhten Löhnen profitieren. Der Durchschnittslohn im neuen Job beträgt 994,59€ pro Monat. Der positive Effekt auf den Lohn wird über fünf Jahre projiziert. Dies entspricht dem Beobachtungszeitraum von Mergele & Weber (2020). Es wird angenommen, dass Beschäftigungsverhältnisse über mindestens 5 Jahre bestehen bleiben. Mithilfe einer Simulation des deutschen Steuer- und Transfersystems lässt sich nun der Effekt der Dezentralisierung von Jobcenter auf das Nettoeinkommen und das Steueraufkommen berechnen. Im Durchschnitt (Dieser beinhaltet Personen ohne Beschäftigung, für die der Effekt null ist) steigt das jährliche Nettoeinkommen um 45,59€. Das Steueraufkommen steigt um 429,07€. Es fällt auf, dass ein Großteil (90,4%) des Anstiegs des Bruttoeinkommens (429,07€ + 45,59€ = 474,66€) an den Staat fließt. Die Ursache hierfür ist, dass Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II bei steigendem Einkommen wieder schrittweise entzogen werden. Folglich kommt es im niedrigen Einkommensbereich zu hohen effektiven Grenzsteuersätzen.

Schließlich muss noch der Effekt der längeren Arbeitslosigkeit auf das öffentliche Budget berücksichtigt werden. Bei einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit von 425 Tagen, resultieren durch die um 8,7 Prozent längere Arbeitslosigkeit, weitere 36,9 Tage Arbeitslosigkeit. In der Simulation des Steuer- und Transfersystems wird angenommen, dass Personen, die kein Arbeitseinkommen erzielen, im Jahr 2020 einen Transfer von 700€ pro Monat erhalten. Nach Anpassung des Preisniveaus an das Jahr 2012 ergibt sich ein jährlicher Transfer von 7745,86€. Es entstehen folglich Kosten in Höhe von 36,9 / 365 ✕ 7745,86€ = 784,52€. Die Nettokosten der Dezentralisierung von 784,52€ - 429,07€ = 355,44€ ergeben sich nach Abzug des Effekts auf das Steueraufkommen. Es wird davon ausgegangen, dass die Übertragung der Leitung der Jobcenter an die Landkreise und kreisfreien Städte keine direkten Kosten verursacht. Die Finanzierungsstruktur, als auch die Anzahl der Mitarbeiter blieb durch die Dezentralisierung unverändert.

Kostenkomposition Dezentralisierung von Jobcenters

Die Zahlungsbereitschaft entspricht den im Durchschnitt leicht gestiegenen Nettoeinkommen von 45,59€. Der MVPF beträgt somit 45,59€ / 355,44€ = 0,13. Der leicht positive Effekt auf die Löhne ist klein relativ zu zusätzlichen Transferzahlungen durch längere Episoden der Arbeitslosigkeit. Des Weiteren profitieren Personen, die eine Beschäftigung aufnehmen aufgrund der hohen effektiven Grenzsteuersätze nur wenig von den leicht höheren Löhnen.

7.5 Inhouse Stellenvermittlung

Krug & Stephan (2016)44 evaluieren ein randomisiertes Feldexperiment, das von der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt wurde und ermitteln sollte, ob die Stellenvermittlung von schwer vermittelbare Arbeitslosen effektiver von privaten Anbietern oder von der Agentur selbst durchgeführt werden kann. Hierfür wurden an zwei Arbeitsagenturen (eine in Westdeutschland, eine in Ostdeutschland) Personen zufällig entweder einem privaten Dienstleister oder einem internen Team zur Stellenvermittlung zugewiesen. Krug & Stephan (2016) finden leicht positive Effekte der internen Bereitstellung der Stellenvermittlung. Personen, die intern vermittelt wurden, haben im Durchschnitt kumuliert über anderthalb Jahre ein um 353,52€ gesteigertes Einkommen. Sie erhalten im gleichen Zeitraum 1103,42€ weniger Transferleistungen. Nach Berechnung der anfallenden Steuerzahlungen ergibt sich ein um 239,93€ gesteigertes Nettoeinkommen. Das Steueraufkommen steigt um 113,59€. Die Mehrkosten der internen Stellenvermittlung betragen 889,84€. Die Nettokosten betragen somit 889,84€ - 113,59€ - 1103,42€ = -327.17€. Die Zahlungsbereitschaft entspricht dem Anstieg des Nettoeinkommens von 239,93€. Der MVPF ist aufgrund der negativen Nettokosten unendlich. Bei der Interpretation des MVPF sollte berücksichtigt werden, dass die Resultate auf lediglich 1360 Beobachtungen beruhen. Außerdem weisen Krug & Stephan (2016) darauf hin, dass Friktionen bei dem Übergang zur internen Stellenvermittlung die Ergebnisse beeinflusst haben könnten.

Literatur

Altmann, Steffen, Armin Falk, Simon Jäger, and Florian Zimmermann. Learning about job search: A field experiment with job seekers in Germany.” Journal of Public Economics 164 (2018): 33–49. https://ideas.repec.org/a/eee/pubeco/v164y2018icp33-49.html.
Caliendo, Marco, Steffen Künn, and Robert Mahlstedt. The return to labor market mobility: An evaluation of relocation assistance for the unemployed.” Journal of Public Economics 148 (2017): 136–51. https://ideas.repec.org/a/eee/pubeco/v148y2017icp136-151.html.
Dolls, Mathias, Philipp Doerrenberg, Andreas Peichl, and Holger Stichnoth. Reprint of: Do retirement savings increase in response to information about retirement and expected pensions? Journal of Public Economics 171 (2019): 105–16. https://ideas.repec.org/a/eee/pubeco/v171y2019icp105-116.html.
Krug, Gerhard, and Gesine Stephan. Private and Public Placement Services for Hard-to-Place Unemployed.” ILR Review 69, no. 2 (2016): 471–500. https://ideas.repec.org/a/sae/ilrrev/v69y2016i2p471-500.html.
Mergele, Lukas, and Michael Weber. Public employment services under decentralization: Evidence from a natural experiment.” Journal of Public Economics 182, no. 104113 (2020). https://ideas.repec.org/a/eee/pubeco/v182y2020ics0047272719301756.html.